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FIT MÜSSEN SIE SEIN – SONST LÄUFT GAR NICHTS

 

Es ist nun einfach einmal so: Sie müssen fit sein. Sonst kommen Sie in Ihrer Ausbildung nicht vom Fleck:

Wenn Sie nicht fit sind, profitieren Sie zu wenig vom Unterricht.

Wenn Sie nicht fit sind, wirkt sich dies auch negativ auf Ihre Prüfungsvorbereitung aus: Sitzen Sie fast im Halbschlaf an Ihrem Pult, schaut beim Lernen nichts heraus.

Auffallend viele Leute achten während ihrer Ausbildung nicht auf ihre Fitness – und das ist schade: Wer nicht auf die Fitness achtet, handelt sich Ärger ein.

 

Wie aber sorgen Sie dafür, dass Sie fit sind?

Hier stelle ich Ihnen vier Mittel vor, die zu Ihrer Fitness beitragen. Dabei muss ich Sie allerdings warnen: Diese Mittel sind weder neu noch originell. Schon unsere Eltern und unsere Grosseltern setzten sie ein. Doch auch wenn diese Mittel alt und längst bekannt sind: Es sind Mittel, die Sie mit wenig Aufwand in die Praxis umsetzen können – und es sind Mittel, die Ihnen nützen.

Sehen wir uns diese Mittel an:

Erstes Mittel: Pausen, Pausen und nochmals Pausen - vergessen Sie um Himmels Willen die Pausen nicht.

Viele Leute machen keine Pausen, wenn sie sich auf eine Prüfung vorbereiten. Sie sitzen wie festgeschraubt da und lernen und lernen und lernen, bis die Buchstaben in den Lehrbüchern vor ihren Augen verschwimmen.

Die Leute tun dies, weil sie sich tapfer vorkommen, wenn sie stundenlang an einem Stück lernen. Tapfer ist es vielleicht schon; rein vom Ertrag her aber muss man es nüchtern feststellen: Ein pausenloses, stundenlanges Lernen ohne genügend viele Pausen dazwischen bringt Ihnen nichts. Das ist die pure Zeitverschwendung.

Machen Sie stattdessen Pausen. Unterbrechen Sie das Lernen, und unterbrechen Sie es häufig – als Faustregel gilt, dass Sie das Lernen etwa alle 20 Minuten unterbrechen sollten.

 

Zweites Mittel:  Bewegen, bewegen und nochmals bewegen.

Wenn Sie eine Pause einschalten, sollten Sie sich bewegen. Das tut Ihrer Fitness gut. Und damit sorgt es auch dafür, dass für Sie beim Lernen etwas herausschaut.

Wenn Sie sich bewegen sollen, heisst dies nicht, dass Sie sich mit Liegestützen, Gewichtheben oder anderen anstrengenden Tätigkeiten quälen müssen. Es genügt bereits schon, wenn Sie einige Schritte in Ihrem Zimmer umhergehen.

 

Drittes Mittel: Sorgen Sie in der Nacht für einen genügend guten und genügend langen Schlaf.

Letzthin las man es in der Zeitung. Wer zu wenig schläft, ist geistig so herabgesetzt, wie wenn er ein Promille Alkohol im Blut hätte.

Was dies für Sie bedeutet, ist klar: Ein Schlafmangel zeigt ziemlich schlimme Folgen – und diese Folgen sollten Sie vermeiden.

Wie viele Stunden Sie brauchen, um genügend lange zu schlafen, müssen Sie selber herausfinden – das Schlafbedürfnis der Leute schwankt beträchtlich: Es gibt Leute, die 10 und mehr Stunden schlafen müssen; es gibt aber auch Leute, denen 5 Stunden pro Nacht genügen.

 

Viertes Mittel: Machen Sie ein Nickerchen.

Den Schlaf können Sie aber auch tagsüber einsetzen, wenn Sie Ihre Fitness verbessern wollen.

Hier gilt:

Wenn Sie tagsüber lernen oder an einem Projekt arbeiten möchten, sollten Sie sich vorher kurz hinlegen und schlafen. Die Betonung liegt dabei auf dem Wort ‚kurz‘: Eine knappe Stunde genügt vollauf.

Manche Leute finden es eigenartig, dass man vor dem Lernen ein Nickerchen machen soll. Doch auch wenn dies merkwürdig erscheint: Es ist eine Massnahme, die Ihnen durchaus weiterhelfen kann.

Das ist fast schon alles, was zur Fitness zu sagen ist. Wie Sie sehen, können Sie mit einigen einfachen Mitteln für Ihre Fitness sorgen – vorausgesetzt natürlich, Sie setzen diese Mittel auch wirklich ein.

Es ist fast alles, was es zur Fitness zu sagen gibt. Denn wir müssen uns noch einem heiklen Kapitel zuwenden.

Es geht, wie Sie vielleicht bereits ahnen, um die Aufputschmittel.

Natürlich wissen Sie es: Es gibt Aufputschmittel, die dafür sorgen, dass Sie lange mit dem Lernen durchzuhalten vermögen – wenn es sein muss bis in den frühen Morgenstunden hinein.

Sollen Sie Aufputschmittel verwenden?

Mit den Aufputschmitteln verhält es sich so:

Wenn Sie Aufputschmittel schlucken, lässt sich die Zeit verlängern, zu der Sie fit und munter am Pult sitzen und sich auf eine Prüfung vorbereiten können.

Das ist der Vorteil, den Ihnen die Medikamente bieten.

Wenn Sie bis in die Morgenstunden lernen, geht dies allerdings auf Kosten Ihres Schlafes. Und das wirkt sich, wie Sie später erfahren werden, auf Ihr Gedächtnis aus: Dieses schwächelt. Denn zu wenig Schlaf ist Gift für das Gedächtnis.

Das ist dann der Nachteil, den Sie sich mit den Aufputschmitteln einhandeln. Wenn es dumm läuft, ist dieser Nachteil grösser als der Vorteil, den Sie mit der längeren Lernzeit gewonnen haben.

Rein lerntechnisch gesehen, muss man also hinter die Aufputschmittel ein Fragezeichen setzen – vielleicht ist es doch klüger, wenn Sie die Hände von ihnen lassen.

 

Fassen wir zusammen:

Wenn Sie fit sein wollen, müssen Sie diese Punkte im Auge behalten:

Achten Sie darauf, dass Sie in der Nacht genügend gut und genügend lange schlafen.

Machen Sie ein Nickerchen, bevor Sie mit dem Lernen beginnen.

Machen Sie während des Lernens häufig Pausen.

Bewegen Sie sich während dieser Pausen.

Verzichten Sie auf Aufputschmittel

 

Aus:

Joni Murhata: So klappt es mit der Ausbildung

xinxii.com

 

 

ÜBERSETZUNGEN UND BEARBEITUNGEN

 

1

Am 17. Juli um 9 Uhr betrat Polizeichef Protheroe das Polizeigebäude. Er war ein grosser Mann im Alter von 40 Jahren. Er trug einen schwarzen Schnurrbart, der an eine Zahnbürste erinnerte und der – zumindest seiner Meinung nach – sein Gesicht verschönerte. Dieses Gesicht war im Grossen und Ganzen unauffällig, auffällig war einzig eine tiefe Stirnfalte, die sich regelmässig dann bildete, wenn ihm eine Laus über die Leber gekrochen war – und dies war sehr häufig der Fall.

Der Polizeichef setzte sich auf seinen Bürostuhl, der ein quietschendes Geräusch von sich gab. Lustlos blätterte er in einem Stapel von Briefen, die auf seinem Pult lagen. Die ersten zwei Briefe legte er zur Seite, weil er sie uninteressant fand. Den dritten las er genauer durch, wobei er sich mit seinen Fingern durch das kurze Haar fuhr, das sich bereits gefährlich lichtete.

Er schürzte die Lippen, als sich die Türe öffnete und ein Mann eintrat.

«Endlich», knurrte Protheroe und seine Stirnfalte vertiefte sich.

Der Mann, der eingetreten war, hiess Sergeant Ruddock.

Ruddock stand im Türrahmen und hielt seinen Helm in der Hand.

«Entschuldigen Sie, Sir», sagte er und trat auf das Pult zu, an welchem er zu sitzen und zu arbeiten pflegte.

«Entschuldigen Sie! Entschuldigen Sie!», wiederholte der Polizeichef. «Sie sind fast 10 Minuten zu spät, und das gehört sich nicht. Sie haben pünktlich zu erscheinen. Das wissen Sie sehr genau.»

Ruddock sagte nichts.

Protheroe schaute ihn verärgert an. Warum schwieg Ruddock und stand einfach nur da? Immer, wenn man es mit ihm zu tun hatte, verhielt er sich so. Er entgegnete nie etwas, sondern stand immer nur da und sagte nichts.

«Nun», sagte der Polizeichef schliesslich. «Haben Sie nichts zu sagen?»

Ruddock war ein drahtiger, mittelgrosser Mann. Er hatte das geradezu absurd rötliche und transparente Gesicht eines Schuljungen.

«Es tut mir leid», wiederholte der Sergeant.

«Vielleicht möchten Sie die Güte haben und sich nun doch langsam an Ihre Arbeit machen», fauchte Protheroe.

«Gewiss doch, Sir. Liegt etwas Besonderes an?»

Das hätte Ruddock besser nicht gefragt, denn damit berührte er einen wunden Punkt: Protheroe war der Polizeichef von Eastrepps, und Eastrepps war ein kleines, verschlafenes Städtchen am Meer. In der Badesaison waren einige Taschendiebe unterwegs, die die Polizei dingfest machen musste. Ab und zu musste die Polizei bei einer Schlägerei eingreifen, und wenn es hoch kam, hatte sie dem Diebstahl eines Fahrrades nachzugehen. Aufregende Dinge jedoch geschahen nie in Eastrepps, und so kam es, dass sich der Polizeichef unterfordert fühlte und sich auch fürchterlich langweilte.

Auf die Frage von Ruddock hin verzog Protheroe den auch sein Gesicht.

«Nein», knurrte er.

Dann jedoch riss er sich zusammen und wandte sich dem Tagesgeschäft zu. Er schaute Ruddock finster an.

«Haben Sie», meinte er schliesslich in einem vorwurfsvollen Ton, «die Angelegenheit von Richard Prescott angeschaut und auch die kleine Angelegenheit, bei der es um die Vorladung von Richard Prescott geht?»

«Das habe ich», antwortete der Sergeant. «Ich stattete dem Haus in Sheffield Park gestern einen Besuch ab. Prescott ist weggegangen, und seine Frau weiss nicht, wann er zurückkommt.»

«Ich will, dass ihm endlich die Vorladung überbracht wird», knurrte der Protheroe. «Sie gehen noch heute Morgen vorbei und erledigen dies.»

«Sehr gut», antwortete Sergeant Ruddock.

Der Polizeichef schaute seinen Untergebenen an. War es denkbar, dass dieser absichtlich in einem sarkastischen Ton antwortete?

«Der Tagesrapport», sagte Ruddock.

«Vielen herzlichen Dank», meinte Protheroe. «Vielleicht könnte es Ihnen möglich sein, eine Antwort auf die Briefe zu formulieren, die heute eingetroffen sind. Nichts von Bedeutung allerdings. Unter anderem ist da die Sache mit dem Hund der Jenkinson. Die Frau, die den Brief geschrieben hat, behauptet steif und fest, dass dieser Hund die Vögel erschreckt und sie vom Brüten abhält. Sie hat deswegen Anzeige erstattet. Und dann sind da noch die eine oder andere kleinere Angelegenheit. Ich muss mich um die wichtigen Dinge kümmern.»

«Die wichtigen Dinge?», echote Ruddock.

«Dass jemand auf dem Gebiet von Sir Jefferson Cobb gewildert hat, zum Beispiel.»

«Natürlich», sagte Ruddock, «die wichtigen Dinge.»

Das Gesicht des Polizeichefs wurde rot. Jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen: Das, was Ruddock sagte, war eindeutig sarkastisch gemeint.

«Die wichtigen Dinge», beharrte der Polizeichef. «Sir Jefferson Cobb, lassen Sie dies gesagt sein, hat mir wegen dieser Angelegenheit ein weiteres Mal geschrieben. Wir müssen eine Verhaftung vornehmen.»

«Ich stelle mir vor, dass Sie bereits jemanden im Kopf haben, den wir verhaften müssen.»

«Ich habe mindestens ein Dutzend Leute im Kopf, die man verhaften könnte», schnappte der Polizeichef. «Unglücklicherweise verlangt die Magistraten Beweise. Auch wenn Sie es noch nicht gemerkt haben sollten: Die Magistraten verlangen Beweise. Be-wei-se, bevor wir jemanden verhaften.»

Der Polizeichef lehnte sich zurück und war zufrieden mit sich selbst. Wenn es sein musste, konnte auch er sarkastisch sein.

Ruddock sagte nichts. Er nahm die Briefe, die auf dem Pult von Protheroe lagen und begab sich mit ihnen zu seinem Pult. In diesen Moment jedoch läutete das Telefon. Mit einer unwirschen Handbewegung forderte Protheroe Ruddock auf, den Anruf entgegenzunehmen.

«Polizeistation Eastrepps, Sergeant Ruddock», sagte dieser. Eine Weile schwieg er, dann meinte er:

«Ich höre Sie sehr gut – Sie können ruhig etwas leiser sprechen, bitte.»

Ruddock hörte weiter zu und wandte sich an den Polizeichef.

«Colonel Hewitt ist am Apparat. Er verlangt nach Ihnen, Sir. Ein Mord.»

«Was?» brüllte der Polizeichef.

«Mord», wiederholte Ruddock ruhig. Aber der Polizeichef war bereits aufgestanden,  hatte das Zimmer durchquert und ihm den Hörer entrissen.

«Hallo…hallo?»

Sergeant Ruddock trat respektvoll zur Seite. Der Polizeichef war gezwungen, den Hörer weit von seinem Ohr entfern zu halten. Die fast gebellten Worte des Obersten waren im ganzen Zimmer zu vernehmen.

«Verdammt, Sir, wiederholen Sie doch nicht immer das, was ich sage… kommen Sie auf der Stelle zu dem Haus ‘The Hollies’, West Cliff… ich warte dort auf Sie und führe Sie hin.»

Der Polizeichef wandte sich an Sergeant Ruddock. Seine Augen leuchteten.

«Ruddock», sagte er, und es war ihm anzuhören, dass er sich zwingen musste, ruhig zu bleiben, «Ruddock, holen Sie Williams und Birchington; sie sollen mich begleiten.»

Ruddock hatte bereits seinen Helm ergriffen.

«Sie bleiben hier», stoppte ihn Protheroe.

«Hier?» wiederholte Ruddock ungläubig.

«Muss ich alles zwei Mal sagen?», knurrte der Polizeichef. «Sie bleiben hier und halten die Stellung.»

Ruddock schaute den Polizeichef so an, wie wenn er protestieren wollte. Dann aber besann er sich eines Besseren und schwieg.

«Und die wichtigen Fälle?», fragte er schliesslich.

«Kümmern Sie sich um sie», sagte der Polizeichef grosszügig. «Ich habe keine Zeit dafür.»

 

Aus

Joni Murhata   Der Polizeichef, der sich fürchterlich langweilte

 

Nach

Francis Beeding  Death Walks in Eastrepps

Übersetzung und Bearbeitung: Hanspeter Weiss

 

 

2

Der Bischof betupfte sich den Mund mit einem Tuch. Er seufzte wohlig und wartete auf den nächsten Gang.

«Ausgesprochen bekömmlich, das Essen», meinte er zu seinem Vetter, dem vornehmen Lord Irvin. Dann rülpste er sich diskret und nach einer kleinen Pause wandte er sich erneut an den Lord.

«Wirklich schade, mein lieber Irvin», sagte er, «wirklich schade, dass deine Frau nicht anwesend sein kann.»

«Wirklich schade», bestätigte der Lord.

«Sie musste dringend aufs Land fahren, sagtest du?»

«So ist es. Sie musste dringend aufs Land fahren», murmelte der Lord.

«Wohin ist sie denn gefahren, wenn ich fragen darf?»

Mehrere Sekunden brauchte der Lord, bis er ein mikroskopisch kleines Fischgerät aus seinen Zähnen entfernt hatte.

«In – ähm – in die Nähe von Brighton, glaube ich.»

Der Bischof schaute ihn fragend an. Der Lord bekam davon jedoch nichts mit, denn er hielt seinen Blick gesenkt.

«Heisst das, dass sie dir nicht gesagt hat, wo sie hingeht?», erkundigte sich der Bischof.

«Es ist – ähm – ein ganz kleiner Ort, ich – ähm – kannte ihn gar nicht und musste ihn zuerst noch auf der Karte suchen.»

«Tatsächlich?», staunte der Bischof. «Ist sie Freunde besuchen gegangen?»

«Freunde – ja, Freunde», sagte der Lord, der froh war, dass ihm der Bischof eine bündige Antwort auf seine Frage in den Mund gelegt hatte.

Erleichtert war der Lord auch deswegen, weil in diesem Augenblick Eva den Raum betrat und den nächsten Gang servierte. Schweigend wandten sich die beiden Herren ihrem Essen zu, bis der Bischof schliesslich sagte:

«Ich gratuliere dir zu deiner ausgezeichneten Köchin!»

Da dieses Kompliment aus dem Mund eines Feinschmeckers kam, hätte sich der Lord darüber freuen müssen. Das tat er jedoch nicht. Stattdessen murmelte er eine Antwort, die der Bischof nicht verstehen konnte.

«Seit wann arbeitet sie für euch?», wollte dieser wissen.

«Ungefähr – ungefähr – «, begann der Lord, um es dann einzugestehen:

«Ich habe vergessen, seit wann sie bei uns ist.»

Der Bischof staunte ein weiteres Mal. Er widmete sich schweigend seinem Essen, bis er seine Befragung fortsetzte. Seine Stimme tönte besorgt.

«Ich gehe davon aus, Irvin, dass es nicht unangenehme Neuigkeiten gewesen sind, die deine Frau veranlasst haben, aufs Land zu reisen?»

«Oh nein», beeilte sich der Lord zu sagen, «es handelte sich um Masern.»

«Du liebe Güte – Masern», ereiferte sich der Bischof, «du willst sagen, dass deine Frau wegen eines Falls von Masern aufs Land aufgebrochen ist?»

«Natürlich», flüsterte der Lord, «es kann allerdings auch sein, dass es daneben noch andere Gründe gegeben hat.»

«Welche ‘anderen Gründe’ vermutest du?», fragte der Bischof.

«Vermuten?», sagte der Lord. »Ich vermute in einem gewissen Sinne nicht, aber die Lösung bot sich von selbst an.»

Mit dieser rätselhaften Bemerkung vermochte der Bischof nichts anzufangen, und die nächsten paar Minuten widmeten sich die beiden Herr ihrem Essen. Der Bischof hüllte sich in ein majestätisches und tiefgründiges Schweigen. Schliesslich meinte er:

«Wann kommt deine Frau zurück?»

Der Lord hatte beschlossen, in die Offensive zu gehen und dem Bischof statt ausweichender Antworten klare Angaben zu liefern, auch wenn diese falsch waren.

«Morgen um 10.51 Uhr», behauptete er.

Der Bischof liess sich die Antwort durch den Kopf gehen und fast feierlich verkündete er:

«Ich möchte dich um einen Gefallen bitten.»

Der Lord war klar, dass es hier keineswegs um einen Gefallen, sondern um einen Befehl ging. Mit einer kläglichen Stimme sagte er denn auch genau das, was der Bischof von ihm erwartete:

«Ich bin dir zu Diensten, mein lieber Vetter!»

«Das Zimmer im Club, in welchem ich übernachtet habe, ist unbequem, und ausserdem hat es Durchzug. Wenn du damit einverstanden bist, werde ich im Club anrufen und veranlassen, dass meine Habseligkeiten gepackt und hierhergebracht werden. Ich werde hier übernachten, und ich werde in diesem Fall auch das Vergnügen haben, deine Frau zu treffen, wenn sie um 10.51 Uhr mit dem Zug ankommt.»

Das ohnehin bleiche Gesicht des Lords wurde noch bleicher, und die Gabel, die er in der Hand hielt, fiel zu Boden. Mit einer quietschenden Stimme meinte er:

«Sehr – sehr – ähm – sehr erfreut.»

Dass der Lord keineswegs erfreut war, entging dem Bischof nicht. Er schaute den Lord verwundert an.

«Zweifellos werden wir die näheren Umstände herausarbeiten, die zu dem bemerkenswerten Auszug deiner Frau geführt haben, über den du, und daran zweifle ich nicht, ebenso erstaunt bist wie ich.»

Mit der Ausnahme eines Bischofs aus einem fernen Land, von dem die Mitbrüder fälschlicherweise behaupteten, dass seine Vorfahren Menschenfresser gewesen seien, galt der Vetter des Lords von allen Bischöfen als der unangenehmste Vorgesetzte: Er besass das Auge eines Adlers, wenn es darum ging herauszufinden, warum einer seiner Untergebenen in irgendeiner Form ein schlechtes Gewissen hatte – da gab er keine Ruhe, bis ihm nicht vollkommen klar war, welche Versäumnisse des Untergebenen zu diesem schlechten Gewissen geführt hatten.

Von dem Moment an, in welchem dem Lord die Gabel entglitten war, verstärkte der Bischof seine Anstrengungen. Nicht das kleinste Detail entging fortan seiner Aufmerksamkeit. Es war denn auch diese verstärkte Aufmerksamkeit, die ihn eine wichtige Entdeckung machen liess.

Die Entdeckung machte er, als die beiden Herren in die Bibliothek wechselten, um dort Kaffee zu trinken und Zigarren zu rauchen.

 

Die Bedienstete Eva brachte auf einem Tablett den Kaffee herein. 

Der Lord benahm sich sehr eigenartig. Er liess den Kaffeelöffel fallen, hob ihn umständlich wieder auf und lächelte Eva auf eine dümmliche Art und Weise an.

Der Bischof hätte schwören können, dass Eva das Lächeln erwiderte und dabei leicht errötete.

Eva verliess den Raum und der Bischof widmete sich seinem Kaffee. Er war tief in Gedanken versunken, und erst nach einigen Minuten der Stille meinte er:

«Ich habe dieses Mädchen vorher noch nie gesehen.»

Der Lord hatte vor sich hingeträumt und schreckte auf. Selbstverständlich entging dies dem Bischof nicht. Er fragte sich, was dem Lord durch den Kopf gegangen war, und sein scharfer Verstand zählte Zwei und Zwei zusammen.

«Nein, ich – ich glaube nicht, dass du es vorher schon einmal gesehen hast», stammelte der Lord endlich.

«Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihre Anwesenheit gutheissen kann.»

Der Lord schluckte leer.

«Sie wird uns demnächst verlassen», liess er verlauten.

«Aha», sagte der Bischof. «Und was ist der Grund dafür?»

«Oh – ah – bloss eine – eine kleine Meinungsverschiedenheit», erklärte der Lord. «Meine Frau schätzte ein geringfügiges Vergehen als schwerwiegend ein. Deshalb wird Eva gehen müssen.»

«Obwohl dies deinem Begehren nicht entspricht», meinte der Bischof, wobei es ihm gelang, das Wort ‘Begehren’ ganz leicht zu betonen.

«Durchaus nicht», gestand der Lord. «Ich war dagegen, dass wir uns von ihr trennen.»

«Geschah dies kürzlich?»

«Erst an diesem Morgen», meinte der Lord unvorsichtigerweise.

«Unmittelbar bevor sich deine liebe Frau auf diese so merkwürdige Reise aufgemacht hat?»

Als der Bischof die Frau des Lord erwähnte, schien sich dieser erneut ausgesprochen unwohl zu fühlen.

«Eh – mehr oder weniger, ja.»

Der Bischof schaute den Lord in einer Art und Weise an, die in keiner Weise dazu geeignet war, dessen Verlegenheit zu mildern.

Für den Rest des Abends sagte der Bischof wenig, überlegte aber viel. Bevor er aber zu Bett ging, machte er eine Bemerkung:

«Übrigens, Irvin: Ich pflege die Türe zu meinem Schlafzimmer während der Nacht offen zu halten. Geräusche im Haus stören mich beim Schlafen. Gute Nacht.»

Der Lord reagierte nicht auf diese Bemerkung. Der Bischof aber hätte auch hier schwören können, dass eine feine Röte das Gesicht des Lords überzog.

 

Die Herren sassen beim Frühstück. Beide schwiegen. Der Bischof sass da wie ein Mensch, der mit sich im Reinen ist. Dem Lord dagegen war anzusehen, dass er sich nicht wohl fühlte.

Er spielte mit seinem Teelöffel und machte ausgesprochen unbeholfene Versuche, ein wenig Speck zu schlucken. Der Bischof dagegen trank zwei bis zum Rand gefüllte Tassen Kaffee, fiel gnadenlos über den Speck her und ass so viel Toast, wie der Toaster nur herzugeben vermochte.

Nach dem Frühstück ergriff der Bischof die Times, zog sich in die Bibliothek zurück und hielt ein achtsames Auge auf die Uhr: Der Lord hatte ihm mitgeteilt, dass seine Frau um 10.51 mit dem Zug am Bahnhof eintreffen würde

Der Lord murmelte nach dieser Mitteilung etwas von einer Schneckenplage im Garten und rannte fast aus dem Zimmer.

Um exakt 10.30 Uhr kehrte er zurück. Der Bischof hörte, wie er eine Weile vor der Bibliothek verweilte. Als er eintrat, hielt er in seiner Hand ein Telegramm. Ohne weitere Vorrede las er dem Bischof vor, was in diesem Telegramm stand:

«Es ist etwas dazwischengekommen – erwarte mich nicht vor morgen. Marie.»

«Hat deine Frau dies geschickt?», wollte der Bischof wissen.

«Meine – eh – Frau, ja», antwortete der Lord.

«Ich muss zugeben, dass mir das alles ein wenig merkwürdig erscheint», meinte der Bischof. Er starrte den Lord an.

«Keineswegs, keineswegs», beeilte sich dieser zu sagen. «das kommt oft vor, wenn sie - abwesend ist. Ich … «

Unter dem strengen Blick des Bischofs stand der Lord wie ein begossener Pudel da. Dann knüllte er das Telegramm zusammen, warf es gegen das Feuer, murmelte diesmal etwas davon, dass im Garten eine Fliegenplage aufgetreten sei, um die er sich kümmern müsse und verliess den Raum.

Zurück blieb der Bischof, dem auffiel, dass der Lord das Telegramm gegen den Rost vor dem Feuer geworfen hatte. Dort war es von einem der Stäbe des Rostes abgeprallt und auf den Boden gefallen.

Der Bischof erhob sich langsam und schritt mit den gemessenen Schritten eines Mannes, der seine Pflicht tut, auf das Telegramm zu. Er hob es auf, faltete es auseinander und las es.

«Bedaure, heute nicht kommen zu können. Melde mich später.»

Dreimal las der Bischof den Text durch, bis er seine Aufmerksamkeit dem Datum des Telegramms zuwendete.

Das Telegramm war 10 Tage alt.

Mehrere Minuten stand der Bischof regungslos da. Er dachte nach und fällte einen Entscheid. Er warf das Telegramm ins Feuer, wo es dieses Mal endgültig verbrannte und läutete nach Eva.

«Sagen Sie bitte dem Lord, dass ich ihn sprechen möchte», wies er Eva an.

Der Lord kam, und der Bischof schaute ihn an. In seinem Gesicht spiegelte sich jene Mischung aus wohlwollender Güte und unerbittlicher Strenge, wie sie bei Geistlichen oft zu beobachten ist, wenn sie es mit sündigen Gemeindemitgliedern zu tun haben.

«Irvin», verkündete der Bischof feierlich, «Irvin, ich habe beschlossen, noch einige Tage hierzubleiben, bis deine Frau zurückkommt und ich mich vergewissern kann, dass sie wohlbehalten bei dir angelangt ist.»

Der Bischof betonte das Wort ‘wohlbehalten’ ganz leicht, und ohne vom Lord eine Antwort zu verlangen, vertiefte er sich wieder in die Times.

Der Lord wankte aus dem Zimmer. Seinem Gesicht war abzulesen, dass er verzweifelt war. 

 

Rund eine Stunde später war der Bischof bei seiner Lektüre der Times bei den Todesanzeigen angekommen. Sie näher zu studieren war ihm jedoch nicht vergönnt. Eva betrat das Zimmer. Ihre heitere Miene fiel dem Bischof sofort auf und bestätigte seinen Verdacht, dass im Hause des Lords etwas ganz und gar nicht in Ordnung war.

Auf einem Tablett brachte ihm Eva eine Notiz, die in der Handschrift des Lords gehalten war.

«Bleiben Sie hier, solange ich die Notiz lese», befahl der Bischof. Er hatte das Gefühl, dass er sich in Kürze mit der jungen Frau würde auseinandersetzen müssen.

Dann las er die Notiz.

«Mein lieber Vetter», war dort zu lesen, «ich bedaure zutiefst, dass eine unerwartete Einladung jener so angenehmen Zeit ein Ende gesetzt hat, die ich in Deiner Gegenwart verbringen durfte. Mit den Einzelheiten des Literaturprojektes, das meinen sofortigen Aufbruch bedingt, möchte ich Dich nicht belästigen, und auch nicht mit den Gründen, die dazu führen, dass ich möglicherweise eine oder gar zwei Wochen abwesend sein muss. Ich bitte Dich, meine Entschuldigung für die plötzliche Abreise anzunehmen.»

Der Bischof warf einen Blick auf Eva, die jedoch keine Miene verzog. Dann fuhr er mit der Lektüre fort.

«Ich habe auch zu meinen Bedauern darauf verzichten müssen, mich persönlich von Dir zu verabschieden, aber ich versichere Dir, dass die Ursachen, die zu meinem plötzlichen Aufbruch führten, dergestalt sind, dass keine Zeit für eine persönliche Verabschiedung hat bleiben können.»

Der Bischof schnaubte und las weiter.

Du findest einen Zug, der St. Pankreas um 12.55 verlässt. Soweit ich mich erinnern kann, befindet sich in dem Zug ein Speisewagen (auch wenn, wie ich feststellen muss, der Fahrplan es unterlassen hat, darauf hinzuweisen), und dass es einen Speisewagen hat, beruhigt mein schlechtes Gewissen, das ich habe, weil ich dir nichts zum Essen anbieten kann.

Mit den allerbesten Wünschen an dich und deine Familie

Irvin.»

Eva hatte dem Bischof die ganze Zeit zugeschaut, während der dieser den Brief las. Jetzt blickte der Bischof auf.

«Dann ist der Lord also weggegangen?», fragte er überflüssigerweise, wobei seine Stimme vor Verärgerung vibrierte.

«Ja, das ist er», meinte Eva.

Der Bischof sah Eva an.

«Er teilt mir mit, dass er nicht einmal Zeit findet, sich von mir zu verabschieden.»

«Ja, das teilt er mit», meinte Eva und machte einen kleinen Knicks.

«Aha!», rief der Bischof aus, der nun sehr wütend war. «Dann haben Sie also gewusst, was der Lord im Brief schreibt!»

Eva wich der Frage geschickt aus:

«Ich habe es aus dem erraten, was Sie eben gesagt haben.»

Der Bischof verabscheute Leute, die seinen Fragen auswichen.

«Tatsächlich?», meinte er. Er schaute Eva in die Augen. Eva schaute ihm in die Augen. Eva senkte als erste den Blick. Dieser kleine Sieg über die junge Frau erfreute den Bischof und mit einem milden Lächeln meinte er:

«Und obwohl er so eilends wegmusste, fand er Zeit, diesen Brief zu schreiben?»

Eva schwieg.

«Danke, das genügt», meinte der Bischof mit einer Stimme, die vor Sarkasmus nur so triefte, «danke, Sie können gehen.»

 

Fast eine Minute stand der Bischof da und überlegte. Dann runzelte er die Stirne und ging zum Telefon. Er nahm den Hörer in die Hand, wählte eine Nummer und sagte mit einer Grabesstimme:

«Verbinden Sie mich mit Scotland Yard.»

 

 

Aus

Joni Murhata

Der Lord, der Rasenmäher und die verschwundene Lady

 

Nach

Joseph Storer Clouston: His First Offence.

 

Übersetzung und Bearbeitung: Hanspeter Weiss